Paul Orhan (Name von der Redaktion geändert) schaut noch einmal über die Schulter, dann öffnet er die Gittertür zu den Mülltonnen des Freiburger Supermarktes. Der Student hat Glück: Die Container sind nicht abgeschlossen, juristisch betrachtet begeht er also Diebstahl – nicht Hausfriedensbruch.

12 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland jedes Jahr in der Tonne

Das hält Orhan nicht auf. Beherzt greift er in die Tonne. Heraus zieht er eine Schachtel Karotten, fünf Packungen Margarine sowie ein Beutel Trauben. „Ich finde es erschreckend, wie viele Lebensmittel im Müll landen“, sagt Orhan. Geld für Nahrungsmittel gebe er praktisch nicht aus. Aus finanziellen Gründen ziehe er jedoch nicht um die Supermärkte: „Diese Verschwendung ist empörend“, betont der Student.

Zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel werden jährlich in Deutschland weggeworfen, schätzt das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Weltweit landet laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sogar ein Drittel der produzierten Lebensmittel im Müll – ein Berg, von dem zwölf Milliarden Menschen satt werden könnten.

Deutschland will Lebensmittelverschwendung halbieren

Die Politik nimmt deswegen Bürger:innen in die Pflicht. In der 2019 vorgestellten „Nationalen Strategie“ hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, Lebensmittelverschwendung in privaten Haushalten bis zum Jahr 2030 zu halbieren und dadurch sechs Millionen Tonnen CO2 einzusparen. Die im Jahr 2012 vom BMEL ins Leben gerufene Initiative „Zu gut für die Tonne” soll Bewusstsein und Wertschätzung für Lebensmitteln erhöhen und Verschwendung reduzieren.

Konkrete Gesetze gegen Lebensmittelverschwendung gibt es in Deutschland allerdings nicht. Anders sieht das beispielsweise in Frankreich aus. 2016 verabschiedete die Grande Nation ein Gesetz, wonach große Supermärkte Lebensmittel nicht mehr wegschmeißen dürfen, sondern gemeinnützigen Organisation spenden müssen. Ähnliche Paragrafen gibt es in Tschechien und Italien.

Lebensmittelverschwendung: Ist ein Wandel in Sicht?

Wie hängt Lebensmittelverschwendung mit dem Klimawandel zusammen, warum ist eine vegane Ernährung alleine nicht die Lösung und welche Schritte muss die Politik nun gehen? Als Forscherin für gesellschaftliche Transformations- und Kreislaufwirtschaft weiß Hanna Helander, wie dringlich die Lage ist. In diesem Podcast erklärt sie nicht nur, warum Lebensmittelverschwendung ein strukturelles Problem ist, sondern gibt auch Tipps für den Alltag. Foto: privat

Orhan vermisst solche Gesetze in Deutschland. Obwohl ihm bei seinen nächtlichen Ausflügen mulmig ist, geht der 20-Jährige regelmäßig containern und ernährt sich laut eigener Aussage fast ausschließlich von Lebensmitteln, die er dort oder durch sogenanntes Foodsharing rettet.

Diese im Jahr 2012 gegründete Initiative aus Berlin hat eigenen Angaben zufolge deutschlandweit fast 52 Millionen Kilogramm Lebensmittel vor der Vernichtung bewahrt. Dabei werden Nahrungsmittel entweder in der Nachbarschaft oder in „Fairteiler“-Kästen geteilt. In Freiburg hängen derzeit 14 solcher Kisten.

Ähnlich funktioniert die 2016 gestartete App „To Good To Go“. Über die Plattform bieten Supermärkte, Restaurants oder Bäckereien in mittlerweile 15 Ländern übrig gebliebene Waren zu einem vergünstigten Preis für Selbstabholer:innen an. Gerettet wird auch bei den Erzeugern: Unter dem 2011 gegründeten Banner der Solidarischen Landwirtschaft verkaufen rund 2.300 Erzeuger:innen aus verschiedenen Ländern nicht normgerechtes Gemüse an einen Zusammenschluss von 645.000 Haushalten.

Foodsharing: Liegt die Zukunft im kollektiven Konsum?

Wie funktioniert Foodsharing und kann die Initiative (langfristig) etwas gegen die Lebensmittelverschwendung bewirken? Die Botschafterin Roxana rettet seit über fünf Jahren Essen vor dem Müll. Wir haben sie einen Tag lang begleitet.

Zu viel landet trotzdem in der Tonne. Orhan hat zwei Rucksäcke sowie Fahrradtaschen mit Lebensmitteln gefüllt und macht sich auf den Heimweg. „Ich bin jedes Mal froh, wenn ich heimkomme und nicht erwischt wurde“, sagt er. Der Beutezug hat sich wieder gelohnt: „Der Kühlschrank ist jetzt voll, die Sachen reichen für die nächste Woche.“

Eine Gemeinschaftsproduktion von Felicia Frank, Emily Goller, Lea Hellmann und Lea Straub im Rahmen des Seminars „Einführung in den crossmedialen Journalismus“ für Studierende der Medienkulturwissenschaft.

Seminarleitung, Redaktion: Ada Rhode, Karsten Kurowski, Philip Thomas