Herr Prof. Busch, Sie sind Leiter des Zentrums für Notfall- und Rettungsmedizin. Dieses Zentrum wurde im Oktober 2023 neu strukturiert. Zunächst ganz generell, was ist eine Notaufnahme eigentlich?
Die Notaufnahme, oder bei uns das Notfallzentrum, bietet den Zugang in die Versorgungsstrukturen des Krankenhauses für Patienten, die dringliche Anliegen haben, also notfällig sind.
Wir haben im Notfallzentrum verschiedene Sektoren, die Notfälle behandeln. Zum einen den ambulanten Bereich, in dem die hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen Patienten mit dringendem Anliegen behandeln. Und zum anderen den stationären Bereich, also die typische Notaufnahme. Hier müssen wir entscheiden, ob ein Patient stationär aufgenommen werden muss oder er wieder in den ambulanten Bereich zurücküberwiesen werden kann.
Was ist das Herausfordernde an einem solchen Notfallzentrum?
Das Herausfordernde ist, dass wir viele unterschiedliche Patienten sehen und wir kritisch kranke Patienten identifizieren müssen, jedoch parallel ganz viele Patienten gleichzeitig betreuen müssen. Der Unterschied zur Rettungsmedizin ist, dass wir nicht klassischerweise einen Patienten allein, sondern pro Arzt vier, fünf, sechs Patienten betreuen und damit sehr vigilant, also wachsam sein müssen, wie es dem einen und wie es dem anderen Patienten gerade geht.
In der Notaufnahme der Universitätsklinik wird nun ganz neu triagiert. Was bedeutet denn Triage genau?
Seit Corona ist der Begriff belastet, weil mithilfe von Triage entschieden werden musste, welcher Patient bestimmte Ressourcen bekommen konnte und welcher Patient nicht. Wir bevorzugen den Begriff „Patientenersteinschätzung“, im englischen gibt es allerdings keinen anderen Begriff außer „Triage“.
Wir beurteilen bei der Patientenersteinschätzung oder auch Dringlichkeitseinschätzung, wie schnell ein Patient behandelt werden muss. Dabei werden die Patienten in der Behandlungsdringlichkeit bevorzugt, deren Behandlung zeitlich dringender ist.
Aber nicht die Triage an sich ist neu im Notfallzentrum. Sie ist die Grundlage jeder guten Notfallmedizin. Was ist jetzt hier in Freiburg das Neue und Besondere?
Am Eingang des Notfallzentrums haben wir nun einen neuen Bereich geschaffen, den wir „Gemeinsamen Tresen“ nennen. Er dient als verbindendes Element zwischen dem ambulanten und stationären Bereich. Dort nehmen unsere Pflegekräfte für jeden Patienten die Ersteinschätzung und die Patientensteuerung, also die Steuerung in den ambulanten bzw. den stationären Bereich vor. Wir nennen dieses System „Integrierten unidirektionalen Patientenfluss“.
Neben der Behandlungsdringlichkeit wird nun auch eine Einschätzung zur Sektorenzugehörigkeit vorgenommen, also ob der Patient die Infrastruktur des Notfallzentrums benötigt oder ob er nicht auch vom anwesenden Hausarzt betreut werden kann.
Im Notfallzentrum haben wir viel mehr Apparate und Diagnostische Möglichkeiten zur Verfügung und können zudem die unterschiedlichen Fachdisziplinen des Universitätsklinikums dazu holen. Ein Hausarzt hat da weniger Möglichkeiten, aber manche Patienten benötigen eben auch nur diese hausärztliche Versorgung.
Ist das nicht eine riesige Verantwortung, die Patient*innen sektorübergreifend einzuschätzen?
Ja, das ist natürlich eine große Verantwortung, die bisher aber auch schon da war, nur dass wir dann die Patienten, die nicht die Versorgung des Notfallzentrums benötigen, an einen „externen“ Arzt überweisen mussten.
Jetzt ist es so, dass wir hinter dem „Gemeinsamen Tresen“, also dem Ort der Ersteinschätzung, einen Hausarzt verfügbar haben, sodass jeder Patient, der kommt, auch einen Arzt sieht. Keiner wird ohne Arztkontakt abgewiesen. Damit sind auch die Kolleginnen und Kollegen im Notfallzentrum entlastet und natürlich kann der Hausarzt Patienten wiederum zurück zur Notaufnahme überweisen. Dadurch konnte ein dynamisches System geschaffen werden.
Es war auch zuvor eine Notfallpraxis in die Uniklinik integriert. Was haben sie in dem ambulanten Bereich des Notfallzentrums umstrukturiert?
Die Notfallpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung, der KV, war bisher immer nur außerhalb der Öffnungszeiten der „normalen“ Allgemeinarztpraxen geöffnet, also wochentags von 20-23 Uhr, Mittwoch und Freitag ab 16 Uhr und am Wochenende und feiertags auch tagsüber.
Nun können wir die Zeiten durch die Kooperation mit einem niedergelassenen Kollegen auffüllen. Ab 8 Uhr morgens ist dieser mit seinem Team in den gleichen Räumlichkeiten wie die KV-Praxis bei uns. Wir können also ganztags, auch während der normalen Praxiszeiten, Patienten dorthin zuweisen.
Was hat sich dadurch für die Patient*innen verändert?
Die Patienten stellen sich vor, bekommen nun am Eingang eine Nummer für unser Patientenleitsystem, werden entsprechend aufgerufen und durch unseren Prozess geschleust, egal ob sie dann in die Notfallpraxis oder in das Notfallzentrum zugewiesen werden.
Inwiefern hat sich durch die Neuausrichtung die Arbeit für das Team im Notfallzentrum verändert?
Unsere Prozesse sind dadurch schlanker geworden. Patienten, die fußläufig zu uns kommen und nur eine hausärztliche Versorgung benötigen, können wir schnell zuweisen. Das entlastet den stationären Sektor, also die Notaufnahme.
Wir haben somit initial weniger Patienten in der Notaufnahme, sehen aber gleichzeitig, dass die Anzahl der schwer- und schwerstkranken Patienten ansteigt. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass wir mehr Patienten aus (über-) regionalen Gebieten aufnehmen können, die wir bisher abweisen und auf die regionalen Versorgungsstrukturen verweisen mussten.
Wir steuern also mit dieser Neustrukturierung der Notaufnahme nicht nur die lokale, sondern auch die regionale und überregionale Versorgung von Notfallpatienten.
Bietet dieses System nun nicht das Risiko, dass dadurch jede*r einfach in die Notaufnahme kommt, auch wenn er oder sie nur eine hausärztliche Behandlung benötigt oder einfach das Wochenende nicht abwarten will?
Diese Befürchtungen gibt es, aber das sehen wir nicht. Ein Hausarzt ist natürlich ein guter Ansprechpartner für jeden Patienten und auch weiterhin als Ansprechpartner von zentraler Bedeutung. Auf der anderen Seite bedienen wir Patienten, die sowieso in die Notaufnahme gekommen wären, aus welchen Gründen auch immer und die wollen wir in den richtigen Bereich steuern und im idealen Fall auch wieder zurück zum Hausarzt.
Im vergangenen Jahr wurden 53.500 Menschen in der Notaufnahme der Uniklinik behandelt, das ist ja auch durchaus mit Wartezeiten verbunden gewesen. Wird man nun gar nicht mehr warten müssen?
Doch tatsächlich schon. Unter den 53.500 Patienten waren über 2.600 Schockraumpatienten, das sind 400 Patienten mehr als vorletztes Jahr. Zudem sind fast 30 Prozent all unserer Patienten kritisch erkrankte oder verletze Patienten, sogenannte Hochrisikopatienten. Dadurch ist auch in der Notaufnahme selbst eine weitere Steuerung notwendig, was wiederum Wartezeiten bedeutet. Was sich tatsächlich schon verändert hat, ist, dass die Patienten in der Notaufnahme schneller einen Arzt sehen. Diese sogenannte „Door-to-Doctor-Time“ ist signifikant kürzer geworden.
Was waren die Gründe für die Umstrukturierung, so wie sie nun vorgenommen wurde?
Wir wollten uns darauf konzentrieren, wofür wir zuständig sind, also die stationäre Behandlung und die Behandlung schwerkranker Patienten. Die Behandlung dieser Patienten ist teuer und erfordert einen hohen Ressourcenaufwand im Notfallzentrum.
Unser Ansatz ist, dass wir ressourcenschonender und effektiver arbeiten können, wenn wir hier im Notfallzentrum die Steuerung der Patienten entsprechend ihrem Bedarf vornehmen. Jeder Patient, welchen wir in den ambulanten Bereich zurücküberwiesen haben, bedurfte trotzdem Dokumentations- und Personalaufwands. Diesen Aufwand können wir nun direkt in die Behandlung fließen lassen.
Die Notaufnahme ist ein Modellprojekt. Wie kam es dazu, dass Freiburg zu diesem Modellstandort wurde?
Das Projekt wurde tatsächlich von uns in der Uniklinik Freiburg initiiert. In Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg und ihrem damaligen stellvertretenden Vorstandvorsitzenden Dr. Fechner haben wir schon 2015/16 mit diesem Projekt begonnen und hätten eigentlich 2019 starten wollen, aufgrund der Pandemie mussten wir den Beginn leider auf vergangenes Jahr verschieben.
Das integrierte Notfallzentrum, so wie wir es gedanklich konzipiert hatten, wird tatsächlich inzwischen auch vom Gemeinsamen Bundesausschuss, dem G-BA und dem Bundesgesundheitsministerium empfohlen. Es war ein paralleler Prozess, die Politik hat den Bedarf eines solchen „Gemeinsamen Tresens“ ebenfalls gesehen und unterstützt dieses Vorhaben.
Es ist also ein absolutes Vorreiterprojekt. Sollen irgendwann alle Notaufnahmen so aussehen?
Ich glaube, man muss zwischen Notfallzentren, Notaufnahmen und Notfallambulanzen unterscheiden. Der G-BA empfiehlt verschiedene Level der Notfallversorgung – die umfassende, erweiterte und Basisnotfallversorgung. Wir sammeln gerade Erfahrungen mit unserem Notfallzentrum und finden langsam heraus, was wir alles mit solch einem Konzept beeinflussen können, wie beispielsweise auch die überregionale Versorgung.
Ich denke, nicht jede Notaufnahme benötigt einen „Gemeinsamen Tresen“. Dies ist auch nicht leistbar. Aber für große Notfallzentren der umfassenden Notfallversorgung lohnt es sich sicherlich, ein solches integriertes Notfallzentrum aufzubauen.
Eine schlussendliche Beurteilung dazu steht noch aus. Wichtig ist, dass wir weiter die Erfahrungen, Zahlen und Veränderungen sammeln. So können wir mit den Ergebnissen der Kassenärztlichen Vereinigung und der Politik darlegen, was sinnvolle flächendeckende Veränderungen sein sollten.
Wir haben bereits über die verschiedenen Level und Sektoren der Notfallversorgung gesprochen. Können Sie diese noch genauer erklären?
Wir sind in Deutschland historisch mit dem Notarztsystem gestartet. Es gab einen Arzt, der Maßnahmen für Schwersterkrankte und Schwerverletzte vor der Krankenhauszuweisung durchführte. Anschließend wies er die Patienten entsprechend seiner Verdachtsdiagnose in die entsprechenden Fachabteilungen zu.
Häufig wissen wir als Notärzte nicht die definitiv zugrundeliegende Erkrankung oder Verletzung, also was der Patient tatsächlich hat, und so kann nur ein Teil der Patienten direkt spezifisch zugewiesen werden.
Da eben ein großer Teil unklare Symptome hat, hat sich die klinische Notfallmedizin herausgebildet, deren Aufgabe es ist, anhand der präsentierten Symptome zu einer endgültigen Diagnose zu kommen. Darüber hinaus wurden mit der Zeit verschiedene Abläufe und Prozesse eingeführt, um den Patienten immer besser einschätzen zu können.
Der Notarzt ist also in der Rettungsmedizin zu finden, der klinische Akut- und Notfallmediziner übernimmt die „Notaufnahmen-Medizin“, die klinische Notfallmedizin. Dazu gehört neben der Zuweisung für eine stationäre Aufnahme die Versorgung und Behandlung all derer, die sofort wieder nach Hause gehen können.
In der Medizin geht es ja immer auch um Ressourcenschonung und in der Organisationsform, wie wir Krankenhaus bisher denken, natürlich ganz konkret um Wirtschaftlichkeit. Spielt das für die Neustrukturierung des Notfallzentrums eine Rolle, wenn ja, welche Veränderung hat die Neustrukturierung der Notaufnahme betriebswirtschaftlich mit sich gebracht?
Tatsächlich spielt das immer eine Rolle und wird immer wichtiger, gerade in den heutigen Zeiten. Notfallmedizin, so wie sie im Moment abgerechnet wird, ist normalerweise für eine Notaufnahme nicht wirtschaftlich.
Uns hilft in diesem neuen Konzept, dass Patienten, die wenig Ressourcen benötigen, dem ambulanten Bereich zugeführt werden können. Damit wird der Bereich, in dem viele Ressourcen vorgehalten werden, für die Patienten genutzt, die diese auch wirklich benötigen. Wir denken also weniger in Wirtschaftlichkeit, sondern vielmehr in Richtung des Ressourceneinsatzes. Dennoch ist eine Notaufnahme oder ein Notfallzentrum die „Visitenkarte eines Krankenhauses oder Klinikums“ und damit von immenser Bedeutung für die Außenwirkung.
Klar ist, dass die Finanzierung für die Notfallmedizin auskömmlich sein muss. Die klinische Akut- und Notfallmedizin ist Daseinsfürsorge für alle Menschen in unserer Bevölkerung. Das kann man anhand der Feuerwehr schön erklären. Die Feuerwehr ist auskömmlich finanziert, obwohl es nicht immer brennt, sind aber für den „Ernstfall“ vorbereitet. Diese Denkweise muss sich für die Notfallversorgung durchsetzen.
Sie sind nicht nur Leiter des Notfallzentrums, sondern auch Notarztstandortleiter und Leitender Hubschrauberarzt. Das sind ganz schön viele Titel. Wie sieht Ihr Alltag aus?
Ich beginne meinen Tag morgens im Büro damit, wichtige E-Mails abzuarbeiten. Um 8.15 Uhr treffen wir uns als Team bei der Frühbesprechung des Notfallzentrums, in welcher der Nachtdienst die Übergabe an den Frühdienst macht. Dort fängt dann mein medizinischer Tag an. Danach folgt die Visite, bei der wir gemeinsam Patienten sehen und das weitere Prozedere besprechen. Die Arbeit in der Notaufnahme übernimmt dann der Oberarzt des Tages, während ich mich meinen Terminen widme.
Sie fliegen aber auch noch selbst Hubschrauber?
Genau, ich fliege noch mindestens drei bis vier Dienste im Monat Hubschrauber – und fahre auch Notarzteinsätze, also sogenannte bodengebundene Einsätze. Ich bin diesbezüglich außerdem in verschiedenen Gremien aktiv, in denen es unter anderem um die Koordination der Einsätze in Verbindung mit dem Josephskrankenhaus geht. Ohne diese Tätigkeiten würde mir ein wichtiger Teil meiner Arbeit fehlen.
In einer Schicht arbeiten im Notfallzentrum 30 bis 35 Mitarbeitende. Wer gehört denn neben den Ärzt*innen noch zum Team im Notfallzentrum?
Wir sind ein sehr großes Team. Neben den Ärzten kommen zum einen unsere Notfallpfleger dazu, die hier auch eine große Entwicklung gemacht haben, und die sich nach ihrer dreijährigen Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger im Notfallzentrum über eineinhalb Jahre lang als Notfallpfleger ausbilden lassen können. Das sind also höchstqualifizierte Mitarbeiter. Dann haben wir den Transportdienst, die Administration, das HWPlus Team, die die Reinigung übernehmen, Logistiker, Mitarbeiter in den Sekretariaten und das Bettenmanagement.
Können Sie bereits eine Bilanz ziehen nach drei Monaten und dem ersten Silvester?
Wir können eine positive Bilanz ziehen. Wir sehen, dass wir bereits um die 10.000 Patienten seit Oktober 2023 behandelt haben. Im Dezember 2023 hätten wir den enormen Andrang an Patienten ohne den „Gemeinsamen Tresen“ wohl kaum gestemmt bekommen. Wir hatten allein bis Dezember circa 8.000 Patienten am „Gemeinsamen Tresen“. Hält man sich vor Augen, dass wir in den elf Jahren, in denen ich nun hier Leiter bin, noch nie mehr als 53.500 Patienten in einem ganzen Jahr versorgt haben, dann sieht man, wie zentral der „Gemeinsame Tresen“ für die adäquate Versorgung der Patienten ist.
Die Steuerung der Patienten funktioniert schon ziemlich gut, auch wenn man sicher noch nachjustieren kann. Aber schon jetzt erkennen wir eine Entlastung für unser Notfallzentrum.